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Vipassanā - Realität sehen, wie sie wirklich ist

Aktualisiert: 12. Sept. 2022

„Vor Vipassanā dachte ich, dass ich meditieren würde. Was ich tatsächlich getan habe, war mit überkreuzten Beinen dazusitzen und zu denken.“

- Sam Harris -


In der Zeit nach meinen Vipassanā Retreats wurde ich oft von Freunden und Familie gefragt: „Was genau ist Vipassana? Wie war es? Warum hast du es gemacht? Und was nimmst du mit?“ Zu Beginn waren meine Antworten unscharf und für mich selbst nicht ganz klar. Heute fällt es mir leichter, darauf zu antworten.


  • Was ist Vipassana? 10 Tage, die meine Art zu leben verändern. Eine Zeit, in der ich so wenig wie nie zuvor denke, so viel wie nie zuvor fühle und mit meinem Unterbewusstsein in Kontakt bin.

  • Wie war es? Intensiv. Eine krasse Reise durch ausgeprägte Tiefs und extreme Höhen.

  • Warum hast du es gemacht? Beim ersten Mal – Neugier. Jedes weitere Mal: Weil ich spüre, welchen positiven Einfluss Vipassana auf mein Leben hat.

  • Was nimmst du mit? Die Fähigkeit, bewusster zu denken, intuitiver zu handeln und mich ungeachtet äußerer Umstände besser zu entspannen.


Aus dem Pali übersetzt bedeutet Vipassanā „Einsicht“. Vipassanā steht dafür, die Realität so zu sehen, wie Sie wirklich ist - und nicht, wie wir sie gerne sehen möchten.


Die „hard facts“ zu den Vipassana Retreats nach S.N. Goenka sind schnell beschrieben (Abb. links). Viel interes-santer ist für euch vermutlich, wie ich zu den oben genannten Antworten gekommen bin. Und wenn ich ehrlich bin, dann musste ich ein bisschen zu meinem Glück gezwungen werden.



Teil 1: Anicca – Alles ist vergänglich

- Buddhistisches Daseinsmerkmal -


Neben den oben beschriebenen Punkte ist Vipassanā vor allem für eins bekannt: Die berühmt-berüchtigten Adhitthāna Sitzungen. Man hasst sie oder man liebt sie. An manchen Tagen auch das eine, an anderen das andere. Und manchmal sogar beides gleichzeitig.


Adhitthāna bedeutet “starke Entschlossenheit“. Die Sitzungen laufen ab dem vierten Tag dreimal täglich immer nach dem gleichen Muster ab: Jede*r Teilnehmer*in wählt eine beliebige Sitzposition, mit der er oder sie sich wohlfühlt. Es folgt eine 60-minütige Meditation. Mit einem Zusatz: bis zum Ende der Sitzung ist man fest entschlossen, seine Position nicht zu ändern. Komplette Ruhe, perfekte Stille, keine Bewegung. Die Meditationsanweisungen erinnern uns: „The mind is only still if the body is still, too.“ In den ersten Tagen des Retreats sind die Adhitthāna Sitzungen für mich vor allem eins: Schmerzhaft.

Teil 2: Das Männchen in meinem Kopf

Zum einen ist da der mentale Schmerz. Es ist, als ob es ein kleines Männchen in meinem Kopf gibt. Es flüstert mir Ideen ein – „Was machst du hier? Was soll der Scheiß? Ernsthaft, das ist unangenehm! Hör damit auf und beschäftige Dich mit irgendetwas! Egal was, aber Hauptsache du hörst sofort auf zu meditieren!“


Wenn die Stimmen im Kopf immer lauter werden.
Wenn die Stimmen im Kopf immer lauter werden. Bild: pixabay

Ich versuche, nicht auf das Männchen zu hören. Ich versuche, es ruhig zu stellen. Aber das Männchen in meinem Kopf macht, was es will.


Gedanken rasen durch meinen Kopf. Ich spüre immer wieder den Impuls aufzu- springen und wegzulaufen. Manchmal habe ich den unfassbar starken Drang in dem Raum, in dem man während der 60 Minuten eine Stecknadel fallen hören könnte, einfach aufzuspringen und laut zu schreien: „Wann ist das endlich zu Ende?!“ Mit viel Konzentration und Mühe unterdrücke ich das kleine Männchen so gut es geht. Atmen. Einfach atmen. Anicca, auch das wird vorbeigehen…


Teil 3: Mit meinem Knie geht das nie

Der körperliche Schmerz ist das Andere. Stundenlanges Sitzen fordert vor allem zu Beginn des Retreats irgendwann seinen Tribut. Meine „Problemstelle“ während der ersten Tage: meine Knie. Ich sitze einfach nur da, aber es tut verdammt weh! Ein ziehender, brennender Schmerz. Als ob jemand Stück für Stück mit rauem Schmiergelpapier meinen Meniskus ausradiert. Der Schmerz ist wirklich stark. Ich bin mir 100% sicher, dass das lange Sitzen mit meinen Knien einfach unmöglich für mich ist. Meine Bänder an der Stelle sind zu krass verkürzt, mein Knie gereizt, entzündent, überdehnt oder was auch immer. Es geht einfach nicht mehr.


OK, Atmen. Einfach Atmen. Ich erinnere mich an die Meditationsanweisungen „Observe the pain. Don’t react to it. Observe it long enough, and it will eventually pass“. Ich denke mir: „OK, klingt simpel. Ich probiere es aus“. Unter dem Einsatz all meiner Konzentration halte ich den Fokus auf den Schmerzpunkt. Auch wenn ich nichts lieber tun würde als meine Beine auszustrecken - ich halte meine Position. Ich bleibe fokussiert. Und ich beobachte den Schmerz.


Wie viel können wir mit mentaler Stärke steuern?
Wie viel können wir mit mentaler Stärke steuern? Bild: pixabay

Und in der Tat, der Schmerz verschwin-det nach einer Weile. Einfach so. Und er bleibt verschwunden. Bis zum Ende des Retreats taucht er nie wieder auf. Wie kann das sein? War der Schmerz nur in meinem Kopf? Ne ne, Buddha persönlich muss hier seine Finger im Spiel gehabt haben. Sofortige Wunderheilung meiner Knie. Eindeutig.



Teil 4: Warum steckt da ein Bolzen in meinem Fuß?

Im Laufe der Zeit gewöhnen sich mein Körper und Geist besser an Adhitthāna. Manche Sitzungen fließen harmonisch und entspannt wie ein Gebirgsbach an einem sonnigen Frühlingsmorgen. Ich bin in Balance und sogar überrascht, wenn nach einer Stunde das Signal zum Ende der Meditation kommt. Ich erinnere mich an eine Sitzung, bei der so viel Spannung von mir abgefallen ist, dass ich danach eine gefühlte Ewigkeit ein Dauergrinsen im Gesicht und sogar die ein oder andere Freudenträne in den Augen hatte. Andere Sitzungen bleiben schwierig.


Es ist Nachmittag. Wieder Adhitthāna. Und dieses Mal ist es der Knöchel. Das Gewicht meiner überkreuzten Beine liegt genau auf diesem kleinen, walnussgroßen Punkt. Meine Augen sind geschlossen, aber innerlich kann ich den Schmerz visualisieren.

Wie schlimm ist es? Stellt euch vor, jemand schlägt einen fingergroßen Bolzen mit einem Hammer durch euren Knöchel. Und lässt ihn dort stecken. So schlimm. Klingt übertrieben, fühlt sich für mich in diesem Moment aber tatsächlich so an.


Das Gefühl ist schmerzhafter als die vorherigen Empfindungen im Knie. Viel schmerzhafter. Der Schmerz kriecht wie eine Schlange des Schreckens geradezu von meinem Knöchel nach oben und droht mein Gehirn von innen zu zerreißen. Ich habe keine Ahnung, wie lange diese Adhitthāna Sitzung noch geht. Aber ich weiß eines: Ich will einfach nur, dass dies Sitzung und dieser Schmerz aufhört. Doch die Sitzung geht weiter.


Teil 5: “Whatever you resist, persists.“

- InnerWorlds, OuterWorlds -


Irgendwann kam ein Punkt, an dem ich merkte: Ich bin müde. Müde von meinem ständigen Widerstand gegen den Schmerz. Müde vom ständigen Versuch, gleichmütig zu sein. Müde von meinem Bemühen, den Schmerz loszuwerden und diese Sitzung endlich hinter mich zu bringen. Ohne es zu planen und ohne es aktiv „zu tun“ passiert mit mir das Letzte, was in dieser Situation noch bleibt: Ich lasse los.


Ich akzeptiere die Realität, so wie sie ist. Ich akzeptiere den Schmerz. Ich akzeptiere und spüre meine Gefühle, so wie sie sind. Kein Widerstand mehr gegen das, was ist.

Wie auf ein geheimes Kommando hin verschwindert der Schmerz von einem Moment auf den anderen. Meine Muskelspannung lässt nach. Wie ferngesteuert sinken meine überkreuzten Beine ab und mein Kiefer entspannt sich. Meine Schultern fallen gefühlt einen halben Meter nach unten. Und mein Atem fließt frei und gleichmäßig.


Mit dem Auflösen meines Widerstandes lösen sich alle mentalen und körperlichen Beschwerden auf. All die Energie, die ich sonst aufwende, um an Dingen festzuhalten, um Erlebnisse in meiner Realität zu kontrollieren – sie ist plötzliche frei und fließt durch meinen Körper. Und erinnere mich an das Zitat aus einer Dokumentation: “Whatever you resist, persists.“ Ich hatte das Zitat immer gemocht. Aber zum ersten fühle ich, was es wirklich bedeutet.


Akzeptieren und loslassen
Akzeptieren und loslassen. Bild: pixabay

Es ist ein Gefühl, das ich niemals zuvor hatte. Ein Gefühl, von dem ich nicht mal wusste, dass es existiert. Es ist schwer zu beschreiben – ein Gefühl unendlicher Ruhe, unendlicher Gelassenheit und unendlicher Balance mit mir und der Welt um mich herum. Zum ersten Mal in meinem Leben verstehe ich, was die in Vipassanā angestrebte Gleichmut ("Equanimity") ist, von der unser Meditationslehrer immer spricht.




SO WHAT?

Wenn jemand anderes sagt: „Mach dich mal locker“ – werden wir dann locker? Wenn wir uns selbst sagen „ich muss entspannen“ – entspannen wir uns dann?

Die intensivsten Erlebnisse während meiner Retreats haben alle eines gemeinsam: Sie sind ohne mein aktives Zutun entstanden. Ähnlich wie der im Daoismus beschriebene Begriff "Wu Wei" ist es ohne bewusste Handlung und ohne Anstrengung des eigenen Willens vielmehr einfach passiert.


Seit langer Zeit habe ich versucht, schlechte Angewohnheiten und Muster abzulegen. Weniger Anxiety und weniger Denken, dafür mehr Entspannung und mehr Sein. Aufhören zu Rauchen, weniger Alkohol. Weniger impulsives Handeln, mehr Bewusstsein und Achtsamkeit. Ich habe viel Energie und viel Willenskraft investiert. Und ich habe wenig erreicht.


Durch Vipassana habe ich verstanden, dass ich jahrelang das falsche Werkzeug eingesetzt habe. Das Eisbergmodell illustriert anschaulich, wie ein Großteil unserer täglichen Entscheidungen und Verhaltensweisen maßgeblich durch unser Unterbewusstsein bestimmt wird. Probleme des Bewusstseins durch bewusste Gedanken und Vorsätze zu lösen war für mich so sinnvoll wie ein Hund der seinen eigenen Schwanz jagt. Oder wie S.N. Goenka es im Kurs formuliert: "You are not really changing. You are merely playing intellectual games”.


Der meditative, tranceartige Zusstand der Vipassana Meditation ermöglicht mir, im Unterbewusstsein zu arbeiten und damit zu den Wurzeln meiner Persönlichkeitsstruktur zu gehen. Der Wasserspiegel des Eisbergs sinkt ein beträchtliches Stück ab und Vieles, das ein Leben lang verborgen war, kommt zum Vorschein. Und nur das, was wir sehen und akzeptieren, können wir auch ändern.


Der Lohn für mich: Mehr innere Ruhe, ein verändertes Alltags-Bewusstsein und ein alles übergreifender Gewinn an Lebensqualität. Gleichzeitig wird für mich immer wieder deutlich, wie groß der Eisberg unter Wasser noch ist. Weshalb ich meinen nächsten Retreat bereits gebucht habe.


Quelle: pixabay

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Über den Autor:


Christian hat sich in jungen Jahren immer gefragt „was die Welt im Innersten zusammenhält“. Jede Antwort hierzu brachte jedoch eine neue Frage, weshalb er irgendwann aufgehört hat zu fragen. Er wohnt in Berlin und ist beruflich als Business Consultant und Coach aktiv. Gestartet im Frankfurter Bankenviertel ist er aktuell im Bereich Social Entrepreneuship tätig. Privat beschäftigt er sich gerne mit den Themen Psychologie, Geschichte, Philosophie und Persönlichkeitsentwicklung. Wir hatten das Vergnügen Christian im Leadership Programm On Purpose kennenzulernen. Für Fragen und alles rund um Vipassana erreicht ihr ihn hier.




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